Die Müllabfuhr und das Seelchenheil

Wir schreiben die frühen 1980er Jahre auf einem Dorf. Ich stehe am Küchenfenster, es ist noch dunkel draußen. Und auch das Licht in der Küche ist aus, damit ich besser raus schauen kann. Es ist Mittwoch, und das ist ein besonderer Tag. Jetzt kann ich sie schon hören, und dann sind sie auch schon da! Wie immer bin ich ein wenig in Sorge, dass sie mich vergessen könnten.

Sie sind die coolsten, mit der coolsten Arbeit, und wenn ich groß bin, möchte ich das auch machen. Ich glaube schon, dass Mädchen das auch können, auch wenn ich bislang nur die Männer gesehen habe – die Müllmänner! Die dürfen am fahrenden Auto hinten drauf stehen! Ich lege meine Hände an die Scheibe und drücke meine Nase platt. Und dann ist es soweit: einer der Müllmänner schaut nach oben zu unserem Fenster. Ich fange an zu grinsen und winke. Erst ganz vorsichtig, aber als der erste Mann dann zurück winkt, winke ich noch stärker. Dann schaut ein weiterer Mann hoch, lacht und winkt auch. Ich freue mich so! Der ganze Tag ist ein guter Tag! Schon bald fährt das Müllauto weiter. Jetzt können die Männer nicht mehr winken, weil sie sich gut festhalten müssen – aber der nächste Mittwoch kommt bestimmt! Ich bin sehr froh!

2017 in der Großstadt, wieder ein Morgen. Ich freue mich schon lange nicht mehr über den Morgen und die damit verbundene Aufgabe: Aufstehen! Ich finde Aufstehen echt nervig und bin dagegen. Aber nützt ja nix. Der Rubel muss rollen! Also mal wieder auf den letzten Drücker aufgestanden, geduscht um die Klüsen aufzukriegen, Sachen gepackt und raus. Im Auto versuche ich kurz zu erkunden, was die Fehlermeldung des heutigen Tages auf meinem Cockpitdisplay mir sagen möchte. Ölwechsel, ok, das hat Zeit! Gerade will ich galant ausparken, als ich sehe, dass die Müllabfuhr meinen Weg blockiert. Natürlich! Da ich mittlerweile zen-geschult genug bin, um zu wissen, dass kein Wutanfall der Welt den Prozess beschleunigen wird, lass ich mich in meinen Sitz zurückfallen und warte. Ich schaue direkt auf das Fenster einer Erdgeschosswohnung.

Und da steht ein kleines, aufgeregtes Mädchen. Sie drückt sich die Nase am Fenster platt und wartet. Ich bin jetzt auch aufgeregt. Ich sehe, wie sie erst fragend schaut, und dann breitet sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. Sie hebt die Hand und winkt. Ich schaue erst in den Rückspiegel, kann aber nichts sehen. Deshalb drehe ich mich um, und sehe, wie der erste Müllmann zurück winkt. Und dann winkt seine Kollegin auch! Ich wusste es, Mädchen können das auch!

Wir wissen natürlich alle, dass die Müllabfuhr absolut zum Funktionieren unserer Ordnung beiträgt. Aber die andere Aufgabe der Müllmänner und -frauen (ja, ich weiß, die heißen bestimmt nicht so, aber ich find’s schön!) ist mindestens genau so wichtig – wenn ein kleines Mädchen sich früh am Morgen freut, weil sie gesehen worden ist, ist die Welt ein Stück besser.

Ich stehe immer noch nicht gerne auf. Aber ich werde es demnächst so takten, dass ich die Müllabfuhr nicht verpasse, und wer weiß, vielleicht winken sie mir ja auch zurück!

Frollein W.

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2 Antworten zu Die Müllabfuhr und das Seelchenheil

  1. rejekblog schreibt:

    Eine sehr schöne, kleine Geschichte! Danke!

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